Breaking the silence- Mutig mit der Scham wachsen

Jenseits von richtig und falsch –
Wie wir mit Wut, Schuld und Scham umgehen und sie konstruktiv nutzen können

Folge 3

Blogtext (für die Visuellen), Lesezeit ca. 12 min,
Podcast (für die Auditiven), der leider zu Beginn etwas stört (es lebe die Unperfektion 😉
Selbstreflexionsmöglichkeit anhand eines Beispiels im Text (für die Ausprobierer*innen) – diesmal mit eigener Kreativität zur Form des Übens

Podcast zum Text:

Blogtext: Lesezeit: ca 12 min

Oh Schreck – du hast einen Zahnpastafleck auf deinem Oberteil und er ist riesig. Du hast den Eindruck, dass dich alle anstarren.

Ein Lehrer steht vor dir und dein Kopf ist leer. Wo ist das Loch, in das du dich verkriechen kannst? Gekicher von deinen Mitschüler*innen. In deinem Kopf dröhnt: „Die denken alle, ich bin zu blöd.“

Beim Yoga entweicht dir hör- und riechbar ein „Pups“ – dir wird heiß, alle Entspannung ist dahin.

Du hast gerade die letzte private Farbkopie für eine Familienfeier aus dem dienstlichen Kopierer gezogen und drei Kollegen kommen dazu. Dein Gedanke: „Mist, die haben bestimmt gesehen, dass das nicht dienstlich war“.

Eine Mitschülerin sagt zu dir: „Du hast ja immer so alte Klamotten an, kriegst du nie was Neues?“.

Jemand berührt dich im vollen Aufzug an einer intimen Stelle, du erstarrst innerlich und schwankst zwischen den Gedanken: „Das war bestimmt Zufall“ und „Da müsste ich mich doch wehren“.

Solche oder ähnliche Situationen hast du sicher schon erlebt. Situationen, in denen du dich für etwas schämst. Scham entsteht immer im Austausch mit anderen. Unabhängig davon, ob wir uns bestimmte Situationen nur vorstellen oder ob sie uns im Beisein anderer passieren, schämen wir uns, weil wir eine negative Reaktion unserer Umwelt befürchten oder erfahren.

Was ist Scham?

Scham ist ein besonders starkes Gefühl. Wir empfinden sie nicht nur innerlich, sie zeigt sich oft auch nach außen. Herzklopfen oder Rotwerden signalisieren anderen, dass wir uns schämen. Wenn uns etwas unangenehm oder peinlich ist, wenn etwas nicht den Erwartungen unserer Umgebung zu entsprechen scheint, dann empfinden wir Scham. Dieses Gefühl kann sehr unangenehm sein, auch im Umgang miteinander. Sie kann Ursache dafür sein, dass Menschen sich zurückziehen, zögerlich, wütend oder ängstlich werden. Die Scham selbst ist mit Scham bedeckt, und deshalb spricht man nicht über sie. Man schämt sich der Scham, weil sie ein überwältigendes Gefühl ist.

Was löst Scham aus?

Was genau der Auslöser ist, ist sehr individuell: Situationen, in denen sich eine Person extrem schämt, können einer anderen völlig egal sein. Ob wir uns schämen, hängt stark von den Werten der Kultur, Bildungsschicht oder Gruppe ab, der wir uns zugehörig fühlen. Auch die Intensität des Gefühls kann stark variieren.

Das Gefühl, schwach zu sein, ist für den Psychoanalytiker Léon Wurmser einer der wichtigsten Auslöser von Scham. Wenn wir glauben, in einer bestimmten Situation zu versagen, die Kontrolle über unsere Impulse zu verlieren oder vermeintlich unangemessene Gefühle zu zeigen – zum Beispiel in der Öffentlichkeit zu weinen oder laut zu schreien -, schämen wir uns.

Scham spielt in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine wichtige Rolle und dient uns als Schlüssel zu unserem Inneren. Wie Wut und Aggression basieren Scham und Schuld auf einer Denkweise, die der Mensch in den letzten 8000 Jahren bewusst gefördert hat. Scham und Schuld sind Ergebnisse des Herrschaftssystems, in dem wir sozialisiert wurden. Unter Herrschaftssystem verstehe ich ein Denkmuster von „richtig“ und „falsch“, „brav“ und “ frech“, „passend“ und „unpassend“ oder „normal“ und „unnormal“. Mit Hilfe solcher Gegensatzpaare vergleichen wir uns und andere und bilden Kategorien und „Schubladen“, in die wir uns selbst und andere „stecken“. Diese Art des Denkens ist für mich das Ergebnis eines jahrhundertealten Umgangs mit Macht. Wer entscheidet? Wer ist untergeordnet? Wer ist oben? Wer ist unten?

Vivian Dittmar betont in ihrem Buch „Gefühle & Emotionen – eine Gebrauchsanweisung“, dass Scham in der Vergangenheit oft missbraucht wurde, um Menschen in Selbstzerfleischung und mangelnder Selbstliebe zu halten. Sie verdeutlicht, wie Kirchen und andere Systeme die Scham der Menschen auch wirtschaftlich für sich nutzten. Heutzutage haben jedoch viele Menschen eine gesunde Abwehr gegen diese Form der Manipulation entwickelt.

Scham beruht auf der Angst vor Bestrafung und davor, aus der Beziehung, der Gemeinschaft oder der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden und somit keinen Schutz, keine Wertschätzung und keine Fürsorge zu erhalten.

In Momenten der Scham ziehen wir uns meist zurück, in eine Art äußere Funkstille, oder schützen uns durch Rebellion und Aggression. Auch innere Gedankenschleifen, die uns selbst abwerten, können Reaktionen auf Scham sein. Wir gehen bewusst oder unbewusst aus dem Kontakt mit anderen und auch mit uns selbst. Wir kapseln uns ab.

„Die Scham erdrückt uns, so dass wir nichts sagen, wenn es uns gut täte“.
Liv Larsson

Was ermöglicht uns Scham?

Marshall B. Rosenberg hat einmal gesagt:

„Tue niemals etwas, um Schuld und Scham zu vermeiden“ Marshall B. Rosenberg.

Im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation steht hinter jedem Gefühl ein Bedürfnis. Weil Menschen Scham empfinden können, haben sie ein Gespür für angemessenes Verhalten. So wirkt sich Scham positiv auf das Zusammenleben in einer sozialen Gemeinschaft aus. Sie führt dazu, dass wir versuchen, uns an die Normen unserer Gesellschaft zu halten. Wenn wir gegen Regeln verstoßen und uns deshalb schämen, hinterfragen und korrigieren wir unser Verhalten. Scham wirkt regulierend, ohne direkte Sanktionen von außen. Durch Scham signalisieren wir unserer Umwelt, dass wir unsere Verstöße gegen soziale Regeln bemerken.

Es ist wichtig, sich unserer Scham bewusst zu werden und sie anzuerkennen, anstatt sie zu verdrängen oder zu bekämpfen. Indem wir uns unseren Gefühlen stellen und sie akzeptieren, können wir einen Weg finden, konstruktiv mit dem starken und unangenehmen Gefühl der Scham umzugehen. Indem wir uns nicht selbst verurteilen, sondern Mitgefühl und Verständnis für uns selbst entwickeln. Indem wir Scham nicht länger verstecken, sondern sie annehmen, können wir beginnen, an ihr zu wachsen und ein authentisches und erfülltes Leben zu führen. Aus der Sicht der Gewaltfreien Kommunikation ist es daher eine hilfreiche Strategie, die Gefühle und Bedürfnisse hinter der Scham zu erforschen. Wenn wir uns den Gefühlen hinter der Scham zuwenden können und die Bedürfnisse wahrnehmen, auf die sie uns hinweisen, wird es leichter, mit diesen Gefühlen umzugehen. Und wenn wir mit unseren Bedürfnissen in Kontakt sind, werden die scheinbar so belastenden Gefühle mehr und mehr zu Wegweisern, um mit uns selbst und mit anderen in echtem, authentischem Kontakt zu sein. Das kann uns die Scham nehmen, das Schweigen brechen und uns befähigen, mutig mit der Scham zu wachsen.

Welche Gefühle und Bedürfnisse entdecken wir, die es uns ermöglichen, mit der Scham in uns zu wachsen?

Scham zählt ebenso wie Wut und Schuld zu den sekundären Gefühlen. Sekundäre Gefühle sind eine Mischung aus meist mehreren primären Gefühlen und Gedanken.

Die Gefühle und Bedürfnisse, die sich hinter der Scham verbergen, wollen wir uns anhand eines Beispiels näher ansehen:

Eine Mitschülerin sagt zu Lana: „Du hast ja immer so alte Klamotten an, kriegst du nie was Neues?“.

Noch heute sackt Lana manchmal zusammen, wenn sie an diesen Satz denkt. Fast automatisch geht ihr Blick nach unten, obwohl diese Szene schon viele Jahre zurückliegt. Den „heißen Stich“ im Bauch kennt sie aus vielen anderen Momenten danach. Nun hat sie in ihrer GFK-Übungsgruppe begonnen, sich mit starken Gefühlen auseinanderzusetzen und ist gespannt, was ihre Scham ihr sagen will:

Hinter ihrer Scham, wenn sie an den Satz ihrer Mitschülerin von damals denkt, verbergen sich Gefühle wie: Unsicherheit, Einsamkeit, Hilflosigkeit und Unbehagen.

Die Bedürfnisse, um die es Lana besonders geht, sind: Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Angenommensein, Teilhabe, Selbstvertrauen.

Wenn wir uns unserer Gefühle und Bedürfnisse hinter der Scham bewusst sind, können wir sie leichter annehmen, weil wir mit uns selbst in Kontakt kommen und aus dem „unten“ und „oben“, „richtig“ und „falsch“ herauskommen. Dann finden wir oft von selbst stimmige Strategien, z.B. können wir…

  • das Gespräch mit anderen suchen und uns austauschen: „Was hat dieser Moment mit mir gemacht und was mit dir?“
  • uns bewusst machen, was uns dazu gebracht hat, diesen Moment mit Scham zu verbinden und warum das für uns bis jetzt wichtig und hilfreich ist. Wir können üben, Scham bewusst als Ressource anzunehmen.
  • uns körperlich bewegen, um unsere Schamgedanken und unser unangenehmes Körpererleben bewusst zu stoppen.
  • jemanden bitten, sich in uns einzufühlen und uns bewusst mit der Scham Gemeinschaft möglich zu machen.

Im Umgang mit Scham geht es darum, mutig hinzuschauen, eigene Gedanken und Glaubenssätze, die mich behindern, zu erkennen und liebevoll mit ihnen umzugehen. Zu erkennen, was sie bisher für mich getan haben: z.B. mich zu schützen, meinen Platz in der Gemeinschaft zu sichern. Und gleichzeitig die inneren Anteile, die an der Scham beteiligt sind, behutsam wachsen lassen, z.B. indem ich mich körperlich mit meinem Schamgefühl verbinde, die Hand auf den Bauch lege, den „heißen Stich“ oder den „Kloß“ spüre und beruhigende Worte für meinen beschämten inneren Anteil finde. Oder dadurch, dass ich das Schweigen breche und die vermeintlichen Fehler zur Sprache bringe, zuerst vor mir selbst und dann mehr und mehr auch im Kontakt mit den anderen. Wenn ich Fehlerfreundlichkeit etabliere und das Vertrauen stärke, dass ich heute als erwachsene*r oder heranwachsende*r Mensch wieder neu ausprobieren darf und meinen Raum erweitern kann. Damit ich mutig sein kann und frei bin, Dinge zu wagen, die mir bisher unmöglich erschienen. Mit Achtsamkeit im Umgang mit anderen und mit mir selbst, denn Wachsen braucht manchmal „Wumms“ und lässt meine inneren „Wölfe“ tanzen – was mir den Kontakt zu mir selbst und zu anderen zunächst erschwert, zumindest so lange, bis ich mich meinen „knurrenden“ Anteilen zuwende.

Dittmar weist darauf hin, dass es an der Zeit ist, sich mit dem Gefühl der Scham anzufreunden, das uns „ein gesundes und ausgeglichenes Verhältnis zu uns selbst schenken kann“, um die Kraft der Scham zu nutzen. Durch diese lernen wir uns selbst und damit auch unsere Beziehungen kennen, reflektieren und entwickeln sie weiter: Eltern-Kind-Beziehungen, Partner*innen, Chef*in-Mitarbeiter*innen- Beziehungen, Kolleg*innen,…
Dittmar regt an, die Wippe gemeinsam im Gleichgewicht zu halten:

Macht gemeinsam zu gestalten, indem wir die Möglichkeiten der 3 Verbindungsoptionen der Gewaltfreien Kommunikation leben: Selbstempathie, Empathie und Aufrichtigkeit.
Seefunk-Reihe dazu: Was ist, wenn ich „nervig“ bin? – oder wie gehst du mit dir selbst um? Selbstempathie und Selbstverbindung leben – Folge 1-6

(Selbst-)Empathie hilft, Scham zu verstehen. Die Verantwortung für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu übernehmen und Beziehungen so zu gestalten, dass wir unseren Raum der Verantwortung gestalten, ist notwendig, um über das Verständnis für uns selbst zu einem Verständnis füreinander zu gelangen. Empathie öffnet. Scham verschließt. Es gehört Mut dazu, sich verletzlich zu zeigen und sich mit Empathie zu verbinden, um die Bedürfnisse hinter unseren Gefühlen zu verstehen und konstruktiv damit umzugehen. Mit Aufrichtigkeit eröffnen wir uns die Möglichkeit, offen und authentisch in Kontakt zu treten und schambesetzten Themen auch in unseren direkten Kontakten Raum zu geben, nicht nur im Austausch mit unbeteiligten Dritten.

Gewaltfreie Kommunikation ist eine Haltung, die zu Verbundenheit führt. Sie hilft uns, aus unseren „alten Mustern“ im Umgang mit Wut, Schuld und Scham auszusteigen und aus dem, was diese Gefühle oft in unserem Miteinander anrichten.

„Eine Auseinandersetzung hat immer 3 Seiten:
eine gute, eine schlechte und eine komische.“ Karl Valentin

In der Auseinandersetzung mit Wut, Schuld und Scham wünsche ich dir etwas von allen drei Seiten:

Dass du die für dich „guten“ Seiten dieser herausfordernden Gefühle entdecken kannst, um sie konstruktiv für dich und im Umgang mit anderen zu nutzen.

Dass du die „schlechten“ Seiten immer besser annehmen, aushalten und an ihnen wachsen kannst.

Und dass du die komischen Seiten wahrnimmst und vielleicht sogar ab und zu über dich selbst und mit anderen lachen kannst.

Herzliche Grüße, Sabine Dieterle

Um Grenzen und „NEIN“ geht es im Seefunk im Juni…

Quellen zum Artikel und zur weiteren inhaltlichen Vertiefung:
Liv Larsson: Wut, Schuld & Scham – Drei Seiten der gleichen Medaille
Interview in englischer Sprache mit Liv Larsson: https://discomfortable.net/liv-larsson/
Gerlinde Ruth Fritsch: „Der Gefühls- und Bedürfnisnavigator“, Junfermann-Verlag
Vivian Dittmar: „beziehungsweise – Beziehung kann man lernen.“, edition est
Onlineartikel Quarks: https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/darum-schaemen-wir-uns/


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Gefühls- & Bedürfnisliste für dein Üben (mit Pseudogefühlen):