Wut-Wut oder Mut-Wut?

Jenseits von richtig und falsch –
Wie wir mit Wut, Schuld und Scham umgehen und sie konstruktiv nutzen können

Folge 1

Blogtext (für die Visuellen), Lesezeit ca. 10 min,
Podcast (für die Auditiven)
Selbstreflexionsmöglichkeit mit dem „Ärgerprozess“ anhand des Übungsblattes
(für die Haptischen und Ausprobierer*innen)

Podcast zum Text:

Blogtext: Lesezeit: ca 10 min

Bist du manchmal wütend?
Wann hast du dich das letzte Mal geschämt?
Wofür hast du dich schon einmal schuldig gefühlt?
Hast du Lust, mit mir über diese Gefühle nachzudenken – wie sie entstehen und was sie uns ermöglichen? Dann los…

Im Dezember Seefunk haben wir uns mit dem Unterschied in der Haltung der Gewaltfreien Kommunikation zwischen Bedauern und Entschuldigen beschäftigt. Dabei fiel uns bei Klarseen im Austausch mal wieder auf, wie sehr dies mit Wut, Schuld und Scham zu tun hat. Wenn wir z.B. ein Kind zwingen, sich „anständig“ zu entschuldigen, kann dies im Kind Wut und Scham auslösen – besonders dann, wenn es aus seiner Sicht nichts getan hat, was das „notwendig“ macht. Dem Kind wird vermittelt, dass es etwas falsch gemacht und sich nicht „richtig“ verhalten hat.
Ich (Sabine) merke in der Beschäftigung mit diesen Gefühlen, wie schwer mir der Umgang fällt, weil sie mein Denken in Kategorien wie „richtig“ und „falsch“, „normal“ und „unnormal“, „angemessen“ und „unangemessen“ einteilen. In diesen Urteilen begegnet mir eine statische Sprache. Eine Sprache, die festlegt, wie die Dinge zu sein haben. Diese Art des Denkens ist für mich das Ergebnis eines Jahrhunderte alten Umgangs mit Macht. Wer entscheidet? Wer ist untergeordnet? Wer ist oben? Wer ist unten?

Wenn diese Denkmuster mit dem Fokus auf „richtig“ und „falsch“ aktiv sind, drängen sich drei Gefühle in den Vordergrund, die wir in dieser und den nächsten beiden Folgen genauer anschauen wollen. Die Protagonisten sind: Wut, Schuld und Scham. Sich mit ihnen zu beschäftigen, finde ich spannend und unterstützend. Und ja, auch anstrengend. Am Anfang kostet es Kraft und Mut, genauer hinzuschauen – aber es lohnt sich!

In der Gewaltfreien Kommunikation werden diese Gefühle auch als sekundäre Gefühle bezeichnet, da sich hinter Wut, Schuld und Scham noch andere Gefühle verbergen. Diese sekundären Gefühle können wir oft nicht steuern. Sie sind wie ein Autopilot und entstehen oft blitzschnell in unserem Stammhirn, das für unsere Reflexe und Instinkte zuständig ist. In Gefahrensituationen greifen wir fast automatisch auf das zurück, was wir schon vor langer Zeit gelernt haben. Um bewusst zu denken und zu handeln, brauchen wir Zugang zu unserem limbischen System, das für unsere Stimmungen und Gefühle zuständig ist. Wenn wir unsere Verletzlichkeit zulassen können, indem wir uns fragen: „Worauf weist mich meine Wut hin, was brauche ich jetzt?“, „Worum geht es mir?“, dann können wir uns mit unseren Bedürfnissen verbinden und sind in der Lage, hinter unsere Wut, unsere Scham und unsere Schuldgefühle zu schauen. Meist stellt sich dann fast automatisch ein anderes Fühlen, ein anderes Körpererleben ein. Vielleicht sind dann plötzlich Tränen möglich oder ein Ausatmen oder wir bemerken eine Anspannung in unserem Körper, die wir ein wenig loslassen, wenn wir uns dem nähern, was uns wirklich bewegt. Die Gefühle, mit denen wir uns unserer Verletzlichkeit nähern können, werden dann für uns sichtbar. Und wir können sie konstruktiv nutzen, um zu verstehen, für welche „guten Gründe“ wir uns mit Wut, Schuld und Scham einsetzen.

„Scham, Schuld und Wut sind im Grunde lebensdienliche Signale. Wir haben diese Signale bislang missverstanden. Wir müssen sie neu interpretieren, um sie konstruktiv nutzen zu können.“ Liv Larsson

Die Übernahme von Verantwortung spielt eine entscheidende Rolle. Solange wir nach jemandem suchen, dem wir die Verantwortung für unsere „ungeliebten“ Gefühle zuschieben können, werden wir nicht auf das hören, was diese Gefühle uns zu sagen haben, und wichtige Botschaften werden uns nicht erreichen.

Heute geht es um die Wut* und was sie uns sagen kann, wenn wir zuhören.

* Wut, Ärger und Zorn werden manchmal synonym verwendet, wobei Ärger eher eine schwächere Intensität als Wut oder Zorn bezeichnet.

Wut ist ein starkes Gefühl und wird und wurde in hierarchischen Systemen und Beziehungen zur Demonstration von „oben“ und „unten“ eingesetzt. Vor allem bei Kindern wurde das Ausleben von Wut lange Zeit als Respektlosigkeit angesehen, der mit strenger Erziehung begegnet werden sollte.

Wut ist ein Gefühl, das wie jedes andere weder gut noch schlecht ist. Auch sie erinnert uns daran, dass Bedürfnisse nicht gehört oder nicht erfüllt werden. Einen Umgang mit diesem Gefühl zu finden, der über Autopilot und Unwohlsein hinausgeht, darum geht es heute. Sich mit der Wut vertraut machen, sie annehmen, ihre Ressourcen erkennen und ihre Kraft schätzen lernen.

„Ärger zeigt mir zwei Dinge: Ich hätte gerne etwas, das ich nicht bekomme und ich gebe jemand anderen die Schuld dafür.“ Marshall Rosenberg

Wenn ich wütend werde, läuft etwas nicht so, wie ich es will oder wie ich es gewohnt bin. Und dann suche ich fast automatisch nach jemandem, der dafür verantwortlich ist, um die Energie in mir „rauszulassen“. An meine Bedürfnisse, auf die mich meine Wut hinweist, denke ich in diesem Moment noch nicht. Dafür braucht es am Anfang Unterstützung und einen geschützten Raum. Denn auch wenn es im ersten Moment nicht so scheint: Wenn wir wütend sind, sind wir sehr verletzlich. Marshall Rosenberg beschreibt in seinem Buch „Was deine Wut dir sagen will“, dass viele Menschen, mit denen er weltweit über Wut gearbeitet hat, die Erfahrung gemacht haben, dass sie dazu erzogen wurden, Wut und Ärger als etwas zu betrachten, das unterdrückt werden muss. Als Säuglinge und Kleinkinder schreien wir unsere Wut heraus. Wenn wir aber die Erfahrung gemacht haben, dass es nicht in Ordnung ist, seine Wut auszudrücken, wenn die Erwachsenen um uns herum uns nicht darin unterstützen konnten, unsere Wut als Kraft zu erleben, dann ist es nicht verwunderlich, dass wir nicht wissen, wie wir mit unserer Wut umgehen sollen. Dann leben wir die Wut, wenn sie lange aufgestaut war, unkontrolliert aus, verletzen damit oder verdrängen sie ganz.

Der Umgang mit Ärger und Wut im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation besteht darin, sie als Wegweiser zu verstehen, die uns helfen, die Ursache unseres Ärgers herauszufinden. Dann können wir verstehen, was in uns vorgeht, wenn wir wütend sind und uns diesen Ursachen des Ärgers, unseren Bedürfnissen, nähern. Wenn Wut als Ausdruck von Bedürfnissen über längere Zeit unterdrückt wird, verlieren wir die mitfühlende Verbindung zu uns selbst und den Zugang zu unseren Bedürfnissen. Dann fällt es uns schwerer, die Bedürfnisse unserer Mitmenschen mitfühlend wahrzunehmen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Konflikte feindselig oder aggressiv werden. Es kann auch dazu führen, dass wir abstumpfen, verstummen oder uns über andere „aufregen“. In jedem Fall kostet es uns Verbindung – mit uns selbst und mit den anderen.

Wut äußert sich oft lautstark. Das kann uns erschrecken, Angst oder Abwehr ins uns auslösen. Wenn wir Wut empfinden und mit der Wut anderer konfrontiert werden, löst das in uns ähnliche körperliche Zustände aus, wie wenn wir bedroht werden. Wir sind angespannt, der Herzschlag beschleunigt sich, Cortisol und Adrenalin werden ausgeschüttet. Die Hirnareale, die für rationale Entscheidungen und Weitsicht zuständig sind, schalten ab, wir denken in Freund-Feind-Schemata. Wir haben einen Tunnelblick und reagieren auf „Autopilot“. Ohne die Fähigkeit sich einzufühlen, in uns selbst und andere, ist es herausfordernd mit Wut umzugehen.

Ich möchte das an einem Beispiel aus dem Arbeitskontext verdeutlichen:

Bei der letzten Dienstbesprechung hat Linda die Idee gefallen, sich für ein neues Beteiligungsprojekt zu melden, das für den Stadtteil, in dem sie als Sozialarbeiterin tätig ist, entwickelt werden soll. Als sie sich an eine Kollegin wendet, mit der sie das gerne umsetzen möchte, erfährt sie, dass sie das bereits mit einer Kollegin und einem Kollegen besprochen hat und ihre Vorgesetzte zugestimmt hat, es wie von den dreien geplant umzusetzen. Für die Planung werde sie jetzt nicht gebraucht, lässt die Kollegin Linda wissen. Aber wenn es konkret wird, freut sie sich auf ihre vielfältigen Fähigkeiten in der Umsetzung. Die genaue Art und Weise der Umsetzung würde die Chefin bei der nächsten Dienstbesprechung bekannt geben.

Linda bleibt äußerlich gelassen. In ihr brodelt es. Nach der Arbeit erzählt sie einer Freundin von dem Vormittag. Die folgenden Sätze sind Teil ihrer Erzählung:
„Diese Egoisten, wie unfair, dass sie das mit der Chefin ausmachen, ohne dass die anderen die Chance haben, Teil des Projektplanungsteams zu sein. Und wie blöd, dass die Chefin nicht mal schaut, was das mit der Stimmung für das Projekt macht. Wer hat schon Lust, sich den Arsch aufzureißen, wenn man nicht mal nach seiner Meinung gefragt wird. Und wie feige ist Miro, mein direkter Kollege, dass er sich nicht mal traut, mir zu sagen, was er vorhat. So stelle ich mir Zusammenarbeit nicht vor. Ich habe wirklich bessere Kollegen verdient, ich weiß nicht, ob ich da noch länger arbeiten will.“

Wut wird – wie im Beispiel bei Linda – durch ärgerliche Gedanken verstärkt. Diese nähren unsere Wut. Es sind also vor allem unsere Interpretationen einer Situation, die Wut auslösen. Wenn wir über jemanden denken: „Er ist feige, gemein, rücksichtslos, arrogant…“, dann reagieren wir viel schneller mit Ärger auf Situationen, die uns ohne diese Gedanken gar nicht aufgefallen wären.

„Jede Kritik, jedes Urteil, jede Diagnose und jeder Ausdruck von Wut ist der tragische Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses.“ Marshall Rosenberg

Um aus wutproduzierenden Gedanken auszusteigen und sich nicht vom Ärger mitreißen zu lassen, ist es hilfreich, sich diese Gedanken bewusst zu machen. Und dabei kann uns ein empathischer Prozess unterstützen, den wir uns selbst ermöglichen [das Übungsblatt dazu findest du am Ende der Folge] oder bei dem wir uns von einer anderen Person einfühlsam begleiten lassen. z.B. bei einem Empathischen Coaching bei Klarseen

Angenommen die Freundin von Linda hört ihr mit „Giraffenohren“ zu und kann die Gedanken mit ihr empathisch übersetzen. Dann könnte sich hinter ihren Ärgergedanken folgendes zeigen:

Ärger-GedankenBedürfnis:
Was ist Linda wichtig?
Primärgefühle die sich hinter dem Ärger zeigen
„Diese Egoisten, wie unfair, dass sie das mit der Chefin ausmachen, ohne dass die anderen die Chance haben, Teil des Projektplanungsteams zu sein.“Teilhaben können, Offenheit, Fairness, Austauschenttäuscht, frustriert, neidisch, traurig
„Und wie blöd, dass die Chefin nicht mal schaut, was das mit der Stimmung für das Projekt macht. Wer hat schon Lust, sich den Arsch aufzureißen, wenn man nicht mal nach seiner Meinung gefragt wird.“Klarheit, gesehen werden, gehört und verstanden werden, Einbezogen sein, Entwicklung, Selbstwirksamkeitaufgewühlt, unsicher, ratlos, hilflos
„Und wie feige ist Miro, mein direkter Kollege, dass er sich nicht mal traut, mir zu sagen, was er vorhat. So stelle ich mir Zusammenarbeit nicht vor. Ich habe wirklich bessere Kollegen verdient, ich weiß nicht, ob ich da noch länger arbeiten will.“Verstehen wollen, Zugehörigkeit, Verbindung, Vertrauen, Achtung, Respekt, Akzeptanzdurcheinander, zweifelnd, beschämt, irritiert, einsam

„Gefühle sind das Licht auf dem Weg zu unseren Bedürfnissen.“ Ingrid Holler

Wenn wir mit Begleitung oder auch für uns selbst unseren Ärger als Lichtquelle für die dahinter liegenden Bedürfnisse und Gefühle nutzen, dann nutzen wir die Kraft des Ärgers, ohne uns mit der Kraft des Ärgers selbst zu schwächen. Dann wird es ruhiger in uns und wir sind in der Lage,konstruktive Lösungen zu finden und Bitten zu formulieren, die eine Chance haben, uns selbst oder andere zu erreichen. Denn es genügt nicht, unsere Worte im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation zu wählen. Die zentrale Frage im Umgang mit Wut und Ärger ist, ob es uns gelingt auszusteigen oder ob wir in der inneren Wut-Haltung verharren, dass der andere etwas „falsch“ gemacht hat und ich deshalb das Recht habe, wütend zu sein.

Im Beispiel von Linda könnte also eine erste Strategie und Bitte an sich selbst lauten: „Werde dir deiner Gedanken bewusst und finde deine Bedürfnisse heraus“. Weitere Strategien ergeben sich im Laufe der Reflexion. Zum Beispiel könnte sie für das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit überlegen, bei welchen Tätigkeiten in ihrem Beruf sie sich als selbstwirksam erlebt und diese möglichst eigenverantwortlich erweitern. Für die Bitte nach außen könnte sie ihre Chefin um ein Gespräch bitten, um z.B.

  • Feedback zu ihrer Arbeit zu bekommen,
  • Rückmeldung zur aktuellen Situation mit dem Projektplanungsteam und wie es ihr damit geht geben
  • oder um zu klären, welche Möglichkeiten ihre Chefin im Alltag sieht, damit sie ihre Fähigkeiten über dieses Projekt hinaus einbringen kann.

Wut und Mut werden gerne in einem Wortspiel verbunden. Wenn wir das W auf den Kopf stellen, wird aus Wut Mut: Wir brauchen unsere Wut-Energie, um Standpunkte zu beziehen und Entscheidungen zu treffen. Um zu definieren, was für uns in Ordnung ist und was nicht. Wut ist die Kraft, die es mir ermöglicht, für meine Standpunkte einzustehen. Wut ist die Energie, die mir hilft, „ja“ oder „nein“ zu sagen. Wut gibt mir die Klarheit, Grenzen zu setzen. Zu viel Wut-Energie zeigt sich in meiner Tendenz aggressiv, gereizt, kritisch und frustriert zu sein. Zu wenig Wut-Energie lässt mich unklar, zweifelnd, grenzenlos und unentschlossen sein.

Wenn wir uns regelmäßig mit der Wut beschäftigen, wenn wir uns mit der Wut sozusagen auf den Kopf stellen, dann werden wir in der Lage sein, aus dem W immer öfter ein M zu machen. Und dabei wütende Gedanken mit der Haltung betrachten, dass sie uns zur Schönheit unserer Bedürfnisse führen. Dann können wir unsere Wut konstruktiv nutzen – jenseits von richtig und falsch.

Herzliche Grüße, Sabine Dieterle

Um Schuldgefühle geht es in der zweiten Folge dieser Reihe, die Mitte April erscheint.

Quellen zum Artikel und zur weiteren inhaltlichen Vertiefung:

Marshall B. Rosenberg: Was deine Wut dir sagen will: überraschende Einsichten
Liv Larsson: Wut, Schuld & Scham – Drei Seiten der gleichen Medaille
Vivian Dittmar, Virani Amana: Gefühle & Emotionen – Eine Gebrauchsanweisung
Sören Bendler, Sören Heise: Gewaltfreie Kommunikation in der Sozialen Arbeit
Elisa Eckartsberg: Wut, wofür bist du denn gut?
Geh hin und fühle / Kinderbuchreihe über Gefühle

Eintragen zum Newsletter sodass du keine Seefunk-Folge verpasst?


Wie sehen Deine Pläne für 2024 aus? Lust auf ein Seminar, z.B. zum „Selbstbewusst „NEIN“ sagen und akzeptieren“ im Juli 2024 oder auf die Teilnahme an unserer Übungsgruppe See-Zeit? Hier wirst du fündig…

Wir freuen uns auf Begegnungen und gemeinsames Wachsen mit der GFK…

Übung: Selbstreflexion oder empathische Begleitung mit dem Ärgerprozess

Gefühls- & Bedürfnisliste zur Übung