Was ist, wenn ich „nervig“ bin? – oder wie gehst du mit dir selbst um? Selbstempathie und Selbstverbindung leben – Folge 5

Blogtext (für die Visuellen), Lesezeit 9 min,
Podcast (für die Auditiven),
Empathie-Übung & Gefühls- & Bedürfnisliste zum Download (für die Auditiven, Haptischen und Ausprobierenden)

Podcast zum Text:

Empathie-Übung „Schönheit der Bedürfnisse“

Gefühls- & Bedürfnisliste

Blogtext: Lesezeit: 9 min

Kennst du das, diese Momente, in denen es plötzlich still wird, nach einem Geschäftstermin, abends, kurz vor dem Schlafengehen, auf dem Heimweg in der U-Bahn oder im Auto. Dann fällt mir etwas ein, das mich nervt. In diesen Momenten kämpfen meine Gedanken mit mir selbst. Was diese eigentlich sehr anstrengenden Momente mit der Schönheit meiner Bedürfnisse zu tun haben, darum geht es in dieser Folge….

Ich möchte dich noch weiter mitnehmen, wie die Schritte Gefühl mit denen wir uns in der letzten Folge intensiv beschäftigt haben mit den Bedürfnissen verbunden sind. Heute beschäftigen wir uns insbesondere mit dem Schritt Bedürfnis, der Schönheit der Bedürfnisse. Was sie uns ermöglichen, wenn wir eine Verbindung zu uns selbst herstellen und begreifen wofür wir uns mit unserem Verhalten einsetzen. Dann wird uns auch immer öfter möglich sein Empathie mit anderen Menschen zu leben.

Unsere Bedürfnisse sind der Ursprung unserer Gefühle und unseres Verhaltens

Alles, was wir denken, fühlen und tun, hat mit Bedürfnissen zu tun. Bedürfnisse sind unser Lebensantrieb, unsere „guten Gründe“, etwas zu tun oder zu lassen. Auch alles, was uns unangenehm oder peinlich ist, worüber wir uns ärgern, hat mit Bedürfnissen zu tun. Die Ursache für den Ärger bin ich selbst und mein Verhalten, denn ich erfülle mir Bedürfnisse, habe aber andere Bedürfnisse, die ich mir nicht erfülle.
Es gibt Auslöser – sei es in meinem Verhalten, in meinem Denken oder im Verhalten anderer -, die unsere Gefühle beeinflussen. Aber die Ursache unserer Gefühle sind wir selbst. Erleben wir Gefühle, die uns guttun und angenehm sind, sind sie ein Zeichen für die Erfüllung unserer Bedürfnisse. Das Geschehene, z.B. eine Rückmeldung einer anderen Person, die uns gefällt, wird in uns so verarbeitet, dass wir angenehme Gefühle erleben. Es kann aber auch ein Verhalten sein, das ich im Nachhinein kritisch bewerte, ein innerer Anteil, der zum Beispiel kritisch bewertet, dass ich heute einer Kollegin“ ins Wort gefallen“ bin oder dass ich meinem Chef wieder nicht gesagt habe, dass ich mich über das „Chaos“ in der Dienstplanung ärgere. Und jetzt ärgere ich mich über mich selbst. Weil ich so eine innere Blockade habe und meinen Ärger wieder nicht kommuniziert habe. Auslöser sind also Gedanken in mir zu bestimmten Momenten in meinem Alltag. Die Ursache meiner Gefühle sind meine erfüllten oder unerfüllten Bedürfnisse.

Das ist auch dann der Fall, wenn ich genervt bin von anderen und Sätze sage oder Gedanken habe wie: „Ich fühle mich betrogen“ oder „Ich fühle mich nicht akzeptiert“ oder „Ich fühle mich verarscht“ oder „Ich fühle mich nutzlos“. Es bleibt dabei, dass ich für meine Gefühle verantwortlich bin, aber ich leugne sie mit diesen Pseudo-Gefühlsformulierungen. In diesen Formulierungen gibt es eine Täter-Person, die mich hintergeht, die mich nicht akzeptiert, die mich verarscht, die mich betrügt, die mich nutzlos erscheinen lässt.

In den Pseudogefühlen ist die Aufmerksamkeit mehr auf jemand anderen als auf mich selbst gerichtet. Es kann auch ein eigener innerer Anteil sein, auf den sich diese schuldzuweisende Aufmerksamkeit richtet.

Ich gestalte meine Kommunikation mit diesem Wissen nicht mehr so:
„Ich fühle mich so ausgetrickst, weil meine Kollegin wieder ihr Ding durchziehen will. Nur deshalb bin ich ihr ins Wort gefallen.“
sondern so:
„Ich habe meine Kollegin heute mitten im Satz unterbrochen. Wenn ich jetzt daran denke, bin ich frustriert, weil mir Achtsamkeit und Miteinander wichtig sind. Um das, was mir wichtig ist mitzuteilen will ich sie morgen um eine Verabredung bitten, dass wir nochmal in Ruhe miteinander sprechen können.“

Auslöser für Gefühle sind also meine Gedanken, Interpretationen, innere Bilder, Zuschreibungen für Worte, Gesten, Handlungen – diese liegen oft im Außen oder kommen von unerwünschten / belastenden Anteilen in uns selbst.

Die Ursache von Gefühlen sind Bedürfnisse, die erfüllt oder nicht erfüllt sind.

Warum erlebe ich einen ähnlichen Moment, z.B. „Chaos“ im Dienstplan, an einem Tag recht gelassen und an einem anderen Tag gehe ich vor Wut „durch die Decke“? Vielleicht, weil ich an dem einen Tag noch viel Zeit habe, es für mich in Ordnung ist, einspringen zu müssen oder ich gerade Unterstützung erhalten habe und mich freue, dass eine Lösung gefunden wird. An einem anderen Tag habe ich vielleicht eine Abendeinladung oder fühle mich sehr erschöpft, dann habe ich keinen Spielraum, um einzuspringen. Der Auslöser ist derselbe – ich muss einspringen, weil es eine Lücke im Dienstplan gibt -, aber mein Gefühl ist ganz anders, je nachdem, was ich gerade brauche.

Die Ursache unserer Gefühle sind unsere eigenen Bedürfnisse in diesem Moment. Was passiert, ist nur der Auslöser.

Das bedeutet, dass ich für meine Gefühle und Bedürfnisse selbst verantwortlich bin. Wenn ich mir das freudig bewusst mache, kann ich wahrnehmen, dass ich einen Handlungsspielraum habe, um für mich selbst zu sorgen. Ich bin nicht abhängig von dem, was andere sagen oder tun. Und auch nicht von meinen Glaubenssätzen. Ich kann für mich klären, wohin mich meine Gedanken und die dadurch ausgelösten Gefühle führen. Und ich kann gestalten, wie ich mit mir und meinen Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt bleibe, auch wenn ich genervt bin. Mit dieser Basis, mit dieser Verwurzelung in mir selbst, habe ich dann auch wieder einen Spielraum, um meinen Mitmenschen mit Empathie begegnen zu können.

Drei Beispiele sollen dies weiter verdeutlichen:

Beispiel 1
Ich springe für die Lücke im Dienstplan ein, obwohl ich an meinem freien Tag dringend Ruhe brauche und mich auch mit einem Freund verabredet habe. Im Nachhinein ärgere ich mich: „Wie konnte ich nur zusagen? Ich habe mich überrumpeln lassen!“ Ich verstehe mich selbst nicht, denn Selbstfürsorge, Ruhe und Miteinander sind mir wichtig.

Auslöser: Ich sage zu, dass ich für die Lücke im Dienstplan kurzfristig einspringe, obwohl ich nicht möchte.

Mögliche erfüllte Bedürfnisse:
Verlässlichkeit, Unterstützung, Anerkennung, Harmonie

Mögliche unerfüllte Bedürfnisse:
Selbstfürsorge, Selbstwirksamkeit, Echt-sein, Ehrlichkeit, Transparenz, Autonomie, Erholung

Beispiel 2
Weil niemand die Spülmaschine ausgeräumt hat, schimpfe ich laut, wenn ich nach Hause komme. Hinterher bin ich beschämt und frustriert, weil mir Wertschätzung und Respekt wichtig sind.

Auslöser: volle Spülmaschine und lautes Schimpfen darüber

Mögliche erfüllte Bedürfnisse:
Echt sein, Offenheit, Klarheit

Mögliche unerfüllte Bedürfnisse:
Wertschätzung, Respekt, Austausch, Verständnis, Unterstützung, Entlastung

Beispiel 3
Ich bin für das Bereitstellen der Medikamente an meinem Arbeitsplatz zuständig und habe es vergessen. Statt es zuzugeben, erfinde ich gegenüber meiner Kollegin eine Ausrede, weil mir Ruhe, Sicherheit und der Schutz von Anerkennung wichtig sind.

Auslöser: Etwas vergessen und eine Ausrede erfinden

Mögliche erfüllte Bedürfnisse:
Entlastung, Ruhe, Sicherheit, Harmonie, Schutz von Anerkennung – „Gesicht wahren“, Gemeinschaft

Mögliche unerfüllte Bedürfnisse:
Kompetenz, Gemeinschaft, Integrität (d.h. möglichst große Übereinstimmung zwischen den eigenen Idealen und Werten und der tatsächlichen Lebenspraxis), Verbindlichkeit, Ehrlichkeit, Selbstwirksamkeit, Vertrauen

Dass ich genervt bin, liegt also daran, dass ich Bedürfnisse habe, die ich in Situationen, in denen ich genervt bin, nicht erfülle. Und das ist eine gute Nachricht! Denn wenn ich merke, dass ich genervt bin, kann ich mich selbst erforschen und herausfinden, welche unerfüllten Bedürfnisse die Ursache für mein Genervtsein sind. So kann ich selbst aktiv etwas dafür tun, nicht mehr genervt zu sein und wieder mehr in Kontakt mit mir zu kommen. Robert Gonzales sprach davon, die Schönheit der Bedürfnisse wahrzunehmen, die Qualität dessen, was ich brauche, wofür ich mich einsetze. Mich mit der Qualität verbinden, die ich im Leben erfahren möchte. Die Schönheit dieses Bedürfnisses und dass ich mich durch mein Verhalten, das mich so nervt, dafür einsetze.

Ich kann die Verantwortung dafür übernehmen, dass diese Bedürfnisse, die ich im Moment nicht erfülle, erfüllt werden. Dazu kommt noch, dass ich mir anschauen kann, welche Bedürfnisse ich mir in diesem Moment doch noch erfülle. Dann ist es wichtig, achtsam mit mir selbst umzugehen und meine „guten Gründe“ für mein Verhalten auszuhalten oder noch mehr wertzuschätzen, indem ich mich zum Beispiel frage: „Welches Bedürfnis versuche ich mit meinem Verhalten zu erfüllen?“ Und manchmal geht es auch darum, auszuhalten, dass ich nicht immer alle meine Bedürfnisse erfüllen kann. Es geht also darum, Prioritäten zu setzen und mich und mein „nerviges“ Verhalten auch mal stehen lassen zu können.

Ruth Gerlinde Fritsch schrieb dazu:
Alles Verhalten ist darauf ausgerichtet, Bedürfnisse zu erfüllen. Selbst tragisches Verhalten dient letztlich dem Ziel, das Leben zu verschönern. Ob das wirklich gelingt, ist eine andere Sache. Die spannende Frage ist, welches Bedürfnis durch ein Verhalten oder einen Verhaltensimpuls eigentlich befriedigt werden soll?“

Um das herauszufinden, brauchen wir zunächst eine empathische Verbindung zu uns selbst. Vom Denken, vom direkt handeln wollen, zum Fühlen und Spüren. Und das ist den allermeisten von uns nicht so vertraut, dass es uns im Alltag einfach so zur Verfügung steht. Deshalb auch hier wieder „Fake it till you make it“, übend „So tun als ob“ ich mich empathisch mit mir selbst oder anderen verbinden kann. In Ruhe meinen Gefühlen nachspüren, meine Bedürfnisse wahrnehmen, Worte finden: „Verbundenheit ohne Handlungsimpuls“.

Wenn du gleich üben möchtest, kannst du das mit der Empathieübung tun, die hier im Blog verlinkt ist. Du wirst angeleitet, zunächst selbst deine Gefühle und Körperempfindungen zu spüren und deine Bedürfnisse wahrzunehmen (Selbstempathie) und dich dann in ein Gegenüber hineinzuversetzen (Empathie).

In der nächsten Folge, die Mitte Oktober erscheint, nehme ich dich mit in die Verbindung der 5 Schritte mit der Aufrichtigkeit.

Herzliche Grüße
Sabine Dieterle

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Quellen zum Text und für’s weiter Umgehen mit dem Thema sind:

Interviewbeitrag Dominic Barter (engl., ca 3min)
https://www.youtube.com/watch?v=cuYrgtkS0Co

Vivian Dittmar:
„beziehungsweise – Beziehung kann man lernen.“, edition est

Coachingsequenz Robert Gonzales (engl .mit Untertiteln)
[knapp 10 min]
Schönheit von Bedürfnissen


Gerlinde Ruth Fritsch:
Praktische Selbst-Empathie“, Junfermann-Verlag und
Der Gefühls- und Bedürfnisnavigator“, Junfermann-Verlag