Folge 1
Blogtext (für die Visuellen), Lesezeit 5 min,
Podcast (für die Auditiven),
Übungsblatt zum Erforschen des eigenen Aufschiebens (für die Haptischen und Ausprobierer*innen)
Podcast zum Text:
Blogtext: Lesezeit: 5 min
Wie würdest du dich selbst beschreiben, wenn es um die Erledigung von Aufgaben geht? Erledigst du Aufgaben sofort oder schiebst manches auf die „lange Bank“?
In der heutigen Folge des Seefunks geht es um das Aufschieben – im Fachjargon Prokrastination genannt. Wir wollen dich mitnehmen und dir zeigen, was hinter dem Aufschieben stecken kann. Damit du, wenn du auch manchmal aufschiebst, zum Beispiel deine guten Vorsätze für das neue Jahr, dich selbst und dein Handeln besser verstehen kannst.
Luisa ist frustriert: Wieder mal hat ihr Mann Max erst in allerletzter Sekunde mit seiner Studienarbeit begonnen. Jetzt steht ihm eine Nachtschicht bevor – und Luisa befürchtet, es morgen mit einem übernächtigten und mies gelaunten Gatten zu tun zu haben. „Mensch Max“, ärgert sie sich. „Kannst du nicht EINMAL ein bisschen früher als erst in der letzten Sekunde mit deinen Hausarbeiten anfangen? Jedes Mal prokrastinierst du so lange, bis es sich wirklich nicht mehr hinauszögern lässt!“ Max grinst ein wenig verschämt: „Kennst du nicht das Sprichwort „Wenn man etwas erst in letzter Sekunde erledigt, dauert es auch nur noch eine Sekunde“? So gesehen ist die eine Nachtschicht doch überhaupt nicht schlimm! Immerhin hatte ich dafür in den letzten Wochen viel Zeit für dich, weil ich die Studienarbeit vor mir hergeschoben habe.“
Clever, wie Max hier seine „Aufschieberitis“ aus einer anderen Perspektive betrachtet. Max bleibt mit sich und mit Luisa in Verbindung mit einem Thema, das oft eher negativ erlebt wird und in einem solchen Paarmoment sicher auch zu Streit führen könnte. Er hat in diesem Moment die Möglichkeit, das Aufschieben – oder zumindest einen Teil davon – positiv zu sehen. Gehen wir davon aus, dass Max sich bereits intensiv mit diesem Wesenszug – dem Aufschieben – beschäftigt hat. Und in dieser Beschäftigung hat er für sich und seine Umwelt geeignete Strategien gefunden, damit umzugehen. Aber alles der Reihe nach…
Max kommt aus einer süddeutschen Kleinstadt. Er arbeitet bei der Agentur für Arbeit und absolviert berufsbegleitend ein Studium, um in eine Leitungsposition aufsteigen zu können. Im Sommer hat er seine große Liebe geheiratet und verbringt gerne Zeit mit seiner Frau. Er pflegt langjährige Freundschaften und trifft sich mit seinen Freunden zum Spielen am PC. Ganze Abende verbringen sie in fröhlicher Runde beim „Zocken“. Die gemeinsamen Aufgaben im Zusammenleben werden von Max und seiner Frau gemeinsam übernommen. Vieles in seinem Leben erlebt Max als stimmig. Nur eines kommt zuverlässig zu kurz: das Studium. „Hausarbeiten schreibe ich grundsätzlich immer erst am Tag vor der Abgabe“, berichtet Max. Dass er dann noch eine Nachtschicht einlegt, ist nicht ungewöhnlich. Seine Frau Luisa rollt mit den Augen. „Das ist immer super stressig. Aber er lernt es einfach nicht, sich mal früher hinzusetzen.“ Seine Prüfungsergebnisse sind jedoch bisher stets gut gewesen.
Prokrastination ist in unserer Leistungsgesellschaft ein negativ konnotiertes Wort. Es gilt als faul, Aufgaben aufzuschieben; Menschen, die prokrastinieren, „drücken sich“ um Unangenehmes. Auch der Mensch, der prokrastiniert, empfindet dieses Verhalten an sich selbst oft als störend. Viele schämen sich für ihre scheinbare Unfähigkeit, Dinge anzupacken und die noch offene Aufgabe belastet sie in ihrem Alltag. Selbstvorwürfe und die Tendenz, sich klein zu machen, sind häufige Begleiterscheinungen. Oft übt auch das Umfeld einen gewissen Druck aus. Wie bei Max und Luisa aus unserem Beispiel werden dann Vorwürfe an die prokrastinierende Person herangetragen: „Immer gerätst du in Stress bei der Abgabe der Hausarbeit. Warum hast du nicht früher mit dem Schreiben angefangen?“ Und nicht nur die anderen sagen, was sie stört, auch man selbst macht sich Vorwürfe: „Ich hätte viel früher mit der Hausarbeit anfangen sollen.
Jetzt muss ich wieder die Nacht durcharbeiten und bin morgens unausgeschlafen und schlecht gelaunt.“
Viele Menschen versuchen, ihre Aufschiebeprobleme rein lösungsorientiert in den Griff zu bekommen. Und wenn wir dann an die eingangs erwähnten guten Vorsätze für das neue Jahr denken, tauchen oft wieder und wieder – ähnlich wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“ – die gleichen oder ähnliche Lösungsideen auf und doch ändert sich wenig.
„Wir handeln lieber aus dem Bedürfnis heraus, zum Leben beizutragen, als aus Schuld, Scham oder Pflichtgefühl.“ Marshall B. Rosenberg
Wenn wir prokrastinieren, ist das Vorhandensein von Gefühlen der Scham und der Schuld ein Hindernis für die Bewältigung der Herausforderung, die wir erleben. Selbstabwertung raubt Energie und verhindert das Finden neuer, hilfreicher und entlastender Strategien.
„Es geht immer um diese Fragen: Was ist lebendig in dir? Und: Was würde dein Leben bereichern?“ Marshall B. Rosenberg
Gerade im Umgang mit Prokrastination geht es darum, sich wieder mit sich selbst verbunden zu erleben. Selbstvertrauen und Zuversicht zu spüren, um mit Vorwürfen und Selbstvorwürfen umgehen zu können. Die GFK geht davon aus, dass alles, was wir tun, der Erfüllung unserer Bedürfnisse dient. Und Bedürfnisse sind das, was wir brauchen, was unser Leben bereichert.
Also egal wie ungünstig die gewählte Strategie ist, z.B. wie im exemplarischen Fall von Max das Aufschieben der Studienarbeit, dahinter stehen immer Bedürfnisse. Der Blick auf diese ermöglicht Orientierung und wieder Klarheit. Und in der Folge eine Beruhigung und ein wieder wachsendes Vertrauen in die eigenen „guten Gründe“, Ressourcen und Fähigkeiten. Auf dieser Basis finden sich dann zu gegebener Zeit Lösungen oft fast wie von selbst.
In der nächsten Folge werden wir Max‘ Beispiel noch genauer unter die Lupe nehmen. Wenn du magst, kannst du in der Zwischenzeit deinem eigenen Aufschieben auf die Spur kommen. Dazu stellen wir dir am Ende dieses Beitrags ein Übungsblatt und eine Gefühls- und Bedürfnisliste zum Download zur Verfügung. Viel Spaß beim Ausprobieren!
Herzliche Grüße,
Catharina Bihr und Sabine Dieterle
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Übung zur Folge: Wann prokrastinierst Du?
Gefühls- & Bedürfnisliste zur Übung